Urteil zur Wahlwiederholung in Berlin
Die Berliner Wähler haben nun endlich Gewissheit darüber, was von den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksversammlungen vom 26. September 2021 zu halten ist. Sie müssen, wie nicht anders zu erwarten war, wiederholt werden. Das Landesverfassungsgericht hat damit, mehr als ein Jahr nach dem Wahltermin, die Konsequenz aus flächendeckenden irregulären Zuständen gezogen, die den Wahltag zu einer einzigartigen Wahlfarce gemacht hatten. Er hat sich damit zu einer Art Gedenktag für die Politik- und Verwaltungsmisere der Hauptstadt im Gedächtnis eingegraben. Das Gericht entschied sich für die Wähler, gegen die Politiker.
Für die Berliner Politik könnte diese Entscheidung, auch wenn es sich bei der Wahlwiederholung nicht um eine Neuwahl handelt (die Wahlperiode beginnt nicht von vorne), auf einen Neuanfang hinauslaufen. Die Mehrheitsverhältnisse sind nicht klar, SPD und Grüne liegen dicht beieinander, am Wahltag könnten sich die Grünen vor die SPD schieben. Das würde bedeuten, dass Franziska Giffey schon nach kurze Zeit ihr Amt als Regierende Bürgermeisterin wieder verlieren könnte. Auch die CDU erhofft sich neue Perspektiven. Das könnte sich sogar auf die Koalition auswirken.
Nicht nur aus Berliner Stadtperspektive war das der Grund, warum die Senatsmehrheit von einer kompletten Wiederholung in allen Wahlbezirken nicht begeistert war und ist. Auch im Bund haben parteipolitische Erwägungen den Blick für das Wahlrecht getrübt. Denn etliche Mandate stehen auf dem Spiel, was sich auf die Sitzverteilung im Bundestag auswirken könnte. Im Bund gilt außerdem noch mehr als für Berlin: Der Wind hat sich zu Ungunsten der Ampelparteien gedreht, die Wiederholung könnte zur Denkzettelwahl werden.
Darauf Rücksicht zu nehmen, wäre aber gleich in mehrfacher Hinsicht eine Verletzung der Verfassung. Macht ginge über Grundrechte.
Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags zog sich deshalb auf die rechtliche Position zurück, dass nur in solchen Wahlbezirken noch einmal gewählt werden sollte, in denen sich zweifelsfrei beweisen lasse, dass es zu Behinderungen und irregulären Verfahren gekommen war.
Der „Schaden“ für die Parteien würde so überschaubar bleiben. Die Mehrheit im Bundestag folgte dieser Ansicht. So bleibt es für die Bundestagswahl vorerst dabei, dass nur in 431 Bezirken (von 2257) die Wahl wiederholt werden soll.
Wie passt das aber zum Urteil des Berliner Verfassungsgerichts? Das Gericht schloss sich dem Kalkül des Bundestags nicht an. Nur einer kann recht haben: Entweder das Chaos war so groß und die nachgewiesenen Fehler waren nur die Spitze des Eisbergs, so dass überall wiedergewählt werden muss, oder aber eine Wiederwahl ist nur dort möglich und nötig, wo Beweise dokumentiert sind.
Sowohl das Berliner Urteil wie auch die Entscheidung des Bundestags werden wohl vor dem Bundesverfassungsgericht landen – die Berliner Entscheidung geht den einen zu weit, die Entscheidung des Bundestags den anderen nicht weit genug. Der Termin für die wiederholte Abgeordnetenhauswahl, voraussichtlich der 12. Februar, steht also unter dem Vorbehalt, dass Karlsruhe anders als das Berliner Verfassungsgericht entscheiden könnte.
Urteilt Karlsruhe anders, wäre das eine Bestätigung für den Bundestag, aber ein Votum gegen das Berliner Urteil. Oder es kommt umgekehrt: Dann hätte das Berliner Gericht recht, aber der Bundestag liegt womöglich falsch. Das Berliner Wahlchaos ist also noch nicht vorbei.